Bundesgesetzblatt  Bundesgesetzblatt Teil I  1969  Nr. 76 vom 18.08.1969  - Seite 1143 bis 1145 - Gesetz über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden

Gesetz über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden Nr. 76 – Tag der Ausgabe: Bonn, den 18. August 1969 1143 Gesetz über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden Vom 15. August 1969 Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen: § 1 Begriffsbestimmung Kastration im Sinne dieses Gesetzes ist eine gegen die Auswirkungen eines abnormen Geschlechtstriebes gerichtete Behandlung, durch welche die Keimdrüsen eines Mannes absichtlich entfernt oder dauernd funktionsunfähig gemacht werden. § 2 Voraussetzungen der Kastration (1) Die Kastration durch einen Arzt ist nicht als Körperverletzung strafbar, wenn 1. der Betroffene einwilligt (§ 3), 2. die Behandlung nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft angezeigt ist, um bei dem Betroffenen schwerwiegende Krankheiten, seelische Störungen oder Leiden, die mit seinem abnormen Geschlechtstrieb zusammenhängen, zu verhüten, zu heilen oder zu lindern, 3. der Betroffene das fünfundzwanzigste Lebensjahr vollendet hat, 4. für ihn körperlich oder seelisch durch die Kastration keine Nachteile zu erwarten sind, die zu dem mit der Behandlung angestrebten Erfolg außer Verhältnis stehen, und 5. die Behandlung nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vorgenommen wird. (2) Unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 Nr. 1, 3 bis 5 ist die Kastration durch einen Arzt auch dann nicht als Körperverletzung strafbar, wenn bei dem Betroffenen ein abnormer Geschlechtstrieb gegeben ist, der nach seiner Persönlichkeit und bisherigen Lebensführung die Begehung rechtswidriger Taten im Sinne des § 175 Abs. 1 Nr. 1 sowie der §§ 176, 177, 178, 183, 211, 212, 223 bis 226 des Strafgesetzbuches erwarten läßt, und die Kastration nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft angezeigt ist, um dieser Gefahr zu begegnen und damit dem Betroffenen bei seiner künftigen Lebensführung zu helfen. § 3 Einwilligung (1) Die Einwilligung ist unwirksam, wenn der Betroffene nicht vorher über Grund, Bedeutung und Nachwirkungen der Kastration, über andere in Betracht kommende Behandlungsmöglichkeiten sowie über sonstige Umstände aufgeklärt worden ist, denen er erkennbar eine Bedeutung für die Einwilligung beimißt. (2) Die Einwilligung des Betroffenen ist nicht deshalb unwirksam, weil er zur Zeit der Einwilligung auf richterliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt wird. (3) Ist der Betroffene nicht fähig, Grund und Bedeutung der Kastration voll einzusehen und seinen Willen hiernach zu bestimmen, so ist die Kastration nur dann zulässig, wenn 1. der Betroffene mit ihr einverstanden ist, nachdem er in einer seinem Zustand entsprechenden Weise aufgeklärt worden ist und wenigstens verstanden hat, welche unmittelbaren Folgen eine Kastration hat, und 1144 Bundesgesetzblatt, Jahrgang 1969, Teil I 2. der Betroffene einen Vormund oder Pfleger erhalten hat, zu dessen Aufgabenbereich die Angelegenheit gehört, und dieser in die Behandlung einwilligt, nachdem er im Sinne des Absatzes 1 aufgeklärt worden ist. (4) Ist der Betroffene unfähig, die unmittelbaren Folgen einer Kastration zu verstehen, so ist die Kastration durch einen Arzt unter den Voraussetzungen des Absatzes 3 Nr. 2 zulässig, wenn sie nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft angezeigt ist und vorgenommen wird, um eine lebensbedrohende Krankheit des Betroffenen zu verhüten, zu heilen oder zu lindern. § 2 Abs. 1 Nr. 3 ist nicht anzuwenden. § 4 Andere Behandlungsmethoden (1) Die §§2 und 3 Abs. 1 bis 3 gelten entsprechend für eine gegen die Auswirkungen eines abnormen Geschlechtstriebes gerichtete ärztliche Behandlung eines Mannes oder einer Frau, mit der nicht beabsichtigt ist, die Keimdrüsen dauernd funktionsunfähig zu machen, die aber eine solche Folge haben kann. Die Behandlung ist auch zulässig, wenn der Betroffene noch nicht fünfundzwanzig Jahre alt ist. (2) Ist der Betroffene unfähig, die unmittelbaren Folgen der Behandlung und einer etwaigen Funktionsunfähigkeit der Keimdrüsen einzusehen, so ist die Behandlung im Sinne des Absatzes 1 unter den Voraussetzungen des § 3 Abs. 3 Nr. 2 zulässig, wenn sie nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft angezeigt ist und vorgenommen wird, um eine schwerwiegende Krankheit des Betroffenen zu verhüten, zu heilen oder zu lindern. (3) Ist der Betroffene minderjährig, so ist die Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters in jedem Falle erforderlich. § 3 Abs. 3 Nr. 2 ist nicht anzuwenden. Steht dem gesetzlichen Vertreter eines Minderjährigen nicht gleichzeitig die Sorge für die Person des Minderjährigen zu oder ist neben ihm noch ein anderer sorgeberechtigt, so ist auch die Einwilligung des Sorgeberechtigten erforderlich. Die Einwilligung ist unwirksam, wenn der Einwilligende nicht im Sinne des § 3 Abs. 1 aufgeklärt worden ist. § 5 Gutachterstelle (1) Die Kastration darf erst vorgenommen werden, nachdem eine Gutachterstelle bestätigt hat, daß 1. ein ärztliches Mitglied der Gutachterstelle den Betroffenen untersucht sowie die in diesem Gesetz vorgeschriebene Aufklärung des Betroffenen und anderer Personen vorgenommen hat und 2. die Voraussetzungen der §§2 und 3 vorliegen. (2) Absatz 1 ist bei einer Behandlung nach § 4 entsprechend anzuwenden, wenn der Betroffene nicht fähig ist, Grund und Bedeutung der Behandlung voll einzusehen und seinen Willen hiernach zu bestimmen, oder das einundzwanzigste Lebensjahr noch nicht vollendet hat. (3) Einrichtung und Verfahren der Gutachterstelle bestimmen sich nach dem Landesrecht. § 6 Genehmigung des Vormundschaftsgerichts In den Fällen des § 3 Abs. 3, 4 sowie des § 4 Abs. 2 bedarf die Einwilligung der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts. Das Vormundschaftsgericht hat den Betroffenen persönlich zu hören. Die Verfügung, durch die es die Genehmigung erteilt, wird erst mit der Rechtskraft wirksam. § 7 Strafvorschrift Wer als Arzt unter den Voraussetzungen der §§2 und 3 einen anderen kastriert oder im Sinne des § 4 behandelt, ohne daß 1. die Gutachterstelle die nach § 5 notwendige Bestätigung oder 2. das Vormundschaftsgericht die nach § 6 erforderliche Genehmigung erteilt hat, wird mit Gefängnis bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. § 8 Änderung des Strafgesetzbuches § 228 des Strafgesetzbuches erhält folgende Fassung: "§ 228 Sind mildernde Umstände vorhanden, so ist in den Fällen des § 223 Abs. 2 und der §§ 223 a, 223 b Abs. 1 auf Gefängnis bis zu drei Jahren oder Geldstrafe, in den Fällen der §§ 224, 227 Abs. 2 auf Gefängnis nicht unter einem Monat, im Falle des § 225 auf Gefängnis nicht unter sechs Monaten und im Falle des § 226 auf Gefängnis nicht unter drei Monaten zu erkennen." § 9 Änderung des Rechtspflegergesetzes Das Rechtspflegergesetz vom 8. Februar 1957 (Bundesgesetzbl. I S. 18), zuletzt geändert durch das Einführungsgesetz zum Aktiengesetz vom 6. September 1965 (Bundesgesetzbl. I S. 1185), wird wie folgt geändert: In § 12 wird hinter der Nummer 10 a folgende Nummer 10 b eingefügt: "10 b. die vormundschaftsgerichtliche Genehmigung nach § 6 des Gesetzes über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden vom 15. August 1969 (Bundesgesetzbl. I S. 1143);". Nr. 76 – Tag der Ausgabe: Bonn, den 18. August 1969 1145 § 10 Aufhebung von Vorschriften § 14 Abs. 2 des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 in der Fassung des Gesetzes vom 26. Juni 1935 (Reichsgesetzbl. I S. 773) wird aufgehoben. § 14 Abs. 1 desselben Gesetzes sowie die Artikel 3 und 4 der Vierten Verordnung zur Ausführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 18. Juli 1935 (Reichsgesetzbl. I S. 1035) sind auf die Entfernung der Keimdrüsen nicht anzuwenden. § 11 Geltung in Berlin Dieses Gesetz gilt nach Maßgabe des § 13 Abs. 1 des Dritten Überleitungsgesetzes vom 4. Januar 1952 (Bundesgesetzbl. I S. 1) auch im Land Berlin. § 12 Inkrafttreten Dieses Gesetz tritt sechs Monate nach seiner Verkündung in Kraft. Die verfassungsmäßigen Rechte des Bundesrates sind gewahrt. Das vorstehende Gesetz wird hiermit verkündet. Bonn, den 15. August 1969 Der Bundespräsident Heinemann Der Bundeskanzler Kiesinger Der Bundesminister der Justiz Horst Ehmke