Bundesgesetzblatt  Bundesgesetzblatt Teil I  1993  Nr. 26 vom 12.06.1993  - Seite 820 bis 821 - Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (zu § 218a Abs. 1, § 219 StGB, § 24b SGB V, §§ 200f, 200g RVO i.d.F. des Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetzes, Artikel 15 Nr. 2 des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes, Artikel 4 des 5. StrRG)

Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (zu § 218a Abs. 1, § 219 StGB, § 24b SGB V, §§ 200f, 200g RVO i.d.F. des Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetzes, Artikel 15 Nr. 2 des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes, Artikel 4 des 5. StrRG) 820 Bundesgesetzblatt, Jahrgang 1993, Teil I Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 - 2 BvF 2/90 u. a. - wird folgende Entscheidungsformel veröffentlicht: 1. § 218a Absatz 1 des Strafgesetzbuches in der Fassung des Gesetzes zum Schutz des vorgeburtlichen/werdenden Lebens, zur Förderung einer kinderfreundlicheren Gesellschaft, für Hilfen im Schwangerschaftskonflikt und zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs (Schwangeren- und Familienhilfegesetz) vom 27. Juli 1992 (Bundes-gesetzbl. I Seite 1398) ist insoweit mit Artikel 1 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes unvereinbar, als die Vorschrift den unter den dort genannten Voraussetzungen vorgenommenen Schwangerschaftsabbruch für nicht rechtswidrig erklärt und in Nummer 1 auf eine Beratung Bezug nimmt, die ihrerseits den verfassungsrechtlichen Anforderungen aus Artikel 1 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes nicht genügt. Die Bestimmung ist insgesamt nichtig. 2. § 219 des Strafgesetzbuches in der Fassung des genannten Gesetzes ist mit Artikel 1 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig. 3. § 24 b des Fünften Buches Sozialgesetzbuch ist nach Maßgabe der Urteilsgründe mit Artikel 1 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes vereinbar. 4. §§ 200 f, 200 g der Reichsversicherungsordnung in der Fassung des Gesetzes über ergänzende Maßnahmen zum Fünften Strafrechtsreformgesetz (Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz - StREG) vom 28. August 1975 (Bundesgesetzbl. I Seite 2289) waren, soweit sie Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung bei Schwangerschaftsabbrüchen nach § 218a Absatz 2 Nummer 3 des Strafgesetzbuches in der Fassung des Fünfzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes vom 18. Mai 1976 (Bundesgesetzbl. I Seite 1213) vorsahen, nach Maßgabe der Gründe mit Artikel 1 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes vereinbar. 5. Artikel 15 Nummer 2 des Schwangeren- und Fami-lienhilfegesetzes ist mit Artikel 1 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig, soweit dadurch die bisher in Artikel 4 des Fünften Gesetzes zur Reform des Straf rechts (5. StrRG) vom 18. Juni 1974 (Bundesgesetzbl. I Seite 1297), geändert durch Artikel 3 und Artikel 4 des Fünfzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes vom 18. Mai 1976 (Bundesgesetzbl. I Seite 1213), enthaltene Vorschrift betreffend die Bundesstatistik über Schwangerschaftsabbrüche aufgehoben wird. 6. Artikel 4 des Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts in der Fassung des Artikels 15 Nummer 2 des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes ist mit dem bundesstaatlichen Prinzip (Artikel 20 Absatz 1, Artikel 28 Absatz 1 des Grundgesetzes) unvereinbar und nichtig, soweit die Bestimmung die zuständigen obersten Landesbehörden verpflichtet; sie ist im übrigen nach Maßgabe der Urteilsgründe mit dem Grundgesetz vereinbar. II. Gemäß § 35 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht wird angeordnet: 1. Das bisher nach Maßgabe des Urteils vom 4. August 1992 geltende Recht bleibt bis zum 15. Juni 1993 anwendbar. Für die Zeit danach bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Neuregelung gelten in Ergänzung zu den Vorschriften des Schwangeren-und Familienhilfegesetzes, soweit diese nicht durch Nummer I. der Urteilsformel für nichtig erklärt worden sind, die Nummern 2 bis 9 dieser Anordnung. 2. § 218 des Strafgesetzbuches in der Fassung des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes findet keine Anwendung, wenn die Schwangerschaft innerhalb von zwölf Wochen nach der Empfängnis durch einen Arzt abgebrochen wird, die schwangere Frau den Abbruch verlangt und dem Arzt durch eine Bescheinigung nachgewiesen hat, daß sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff von einer anerkannten Beratungsstelle (vgl. Nummer 4 dieser Anordnung) hat beraten lassen. Das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs bleibt auch in diesen Fällen unberührt. 3. (1) Die Beratung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens. Sie hat sich von dem Bemühen leiten zu lassen, die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und ihr Perspektiven für ein Leben mit dem Kind zu eröffnen; sie soll ihr helfen, eine verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung zu treffen. Dabei muß der Frau bewußt sein, daß das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft auch ihr gegenüber ein eigenes Recht auf Leben hat und daß deshalb nach der Rechtsordnung ein Schwangerschaftsabbruch nur in Ausnahmesituationen in Betracht kommen kann, wenn der Frau durch das Austragen des Kindes eine Belastung erwächst, die - vergleichbar den Fällen des § 218a Absatz 2 und 3 des Strafgesetzbuches in der Fassung des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes - so schwer und außergewöhnlich ist, daß sie die zumutbare Opfergrenze übersteigt. Nr. 26 - Tag der Ausgabe: Bonn, den 12. Juni 1993 821 (2) Die Beratung bietet der schwangeren Frau Rat und Hilfe. Sie trägt dazu bei, die im Zusammenhang mit der Schwangerschaft bestehende Konfliktlage zu bewältigen und einer Notlage abzuhelfen. Hierzu umfaßt die Beratung a) das Eintreten in eine Konfliktberatung; dazu wird erwartet, daß die schwangere Frau der sie beratenden Person die Tatsachen mitteilt, deret-wegen sie einen Abbruch der Schwangerschaft erwägt; b) jede nach Sachlage erforderliche medizinische, soziale und juristische Information, die Darlegung der Rechtsansprüche von Mutter und Kind und der möglichen praktischen Hilfen, insbesondere solcher, die die Fortsetzung der Schwangerschaft und die Lage von Mutter und Kind erleichtern; c) das Angebot, die schwangere Frau bei der Geltendmachung von Ansprüchen, bei der Wohnungssuche, bei der Suche nach einer Betreuungsmöglichkeit für das Kind und bei der Fortsetzung ihrer Ausbildung zu unterstützen, sowie das Angebot einer Nachbetreuung. Die Beratung unterrichtet auch über Möglichkeiten, ungewollte Schwangerschaften zu vermeiden. (3) Erforderlichenfalls sind ärztlich, psychologisch oder juristisch ausgebildete Fachkräfte oder andere Personen zu der Beratung hinzuzuziehen. Bei jeder Beratung ist zu prüfen, ob es angezeigt ist, im Einvernehmen mit der schwangeren Frau Dritte, insbesondere den Vater sowie nahe Angehörige beider Eltern des Ungeborenen hinzuzuziehen. (4) Die schwangere Frau kann auf ihren Wunsch gegenüber der sie beratenden Person anonym bleiben. (5) Ist es nach dem Inhalt des Beratungsgesprächs dem Ziel der Beratung (Absatz 1 <Satz 1>) dienlich, ist das Beratungsgespräch alsbald fortzusetzen. Sieht die beratende Person die Beratung als abgeschlossen an, hat die Beratungsstelle der Frau auf Antrag über die Tatsache, daß eine Beratung nach den Absätzen 1 bis 4 stattgefunden hat, eine auf ihren Namen lautende und mit dem Datum des letzten Beratungsgesprächs versehene Bescheinigung auszustellen. (6) Die beratende Person hat in einer Weise, die keine Rückschlüsse auf die Identität der Beratenen erlaubt, in einem Protokoll das Alter, den Familienstand und die Staatsangehörigkeit der Beratenen, die Zahl ihrer Schwangerschaften, ihrer Kinder und früherer Schwangerschaftsabbrüche festzuhalten. Sie hat ferner die für den Abbruch genannten wesentlichen Gründe, die Dauer des Beratungsgesprächs und gegebenenfalls die zu ihm hinzugezogenen weiteren Personen zu vermerken. Das Protokoll muß auch ausweisen, welche Informationen der Schwangeren vermittelt und welche Hilfen ihr angeboten worden sind. 4. (1) Stellen, die eine Beratung nach Nummer 3 vornehmen, bedürfen - unabhängig von einer Anerkennung nach Artikel 1 § 3 des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes - besonderer staatlicher Anerkennung. Als Beratungsstellen können auch Einrichtungen freier Träger und Ärzte anerkannt werden. (2) Beratungsstellen dürfen mit Einrichtungen, in denen Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden, nicht derart organisatorisch oder durch wirtschaftliche Interessen verbunden sein, daß hiernach ein materielles Interesse der Beratungseinrichtung an der Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen nicht auszuschließen ist. Der Arzt, der den Schwangerschaftsabbruch vornimmt, ist als Berater ausgeschlossen; er darf auch nicht der Beratungsstelle angehören, die die Beratung durchgeführt hat. (3) Als Beratungsstelle kann nur anerkannt werden, wer für eine Beratung nach Maßgabe der Nummer 3 Gewähr bietet, über für eine solche Beratung in persönlicher und fachlicher Hinsicht qualifiziertes und der Zahl nach ausreichendes Personal verfügt und mit allen Stellen zusammenarbeitet, die öffentliche und private Hilfen für Mutter und Kind gewähren. Die Beratungsstellen sind verpflichtet, die ihrer Beratungstätigkeit zugrundeliegenden Maßstäbe und die dabei gesammelten Erfahrungen jährlich schriftlich niederzulegen. (4) Die Anerkennung darf nur mit der Maßgabe erteilt werden, daß sie nach einer gesetzlich zu bestimmenden Frist jeweils der Bestätigung durch die zuständige Behörde bedarf. (5) Die Länder stellen ein ausreichendes Angebot wohnortnaher Beratungsstellen sicher. 5. Dem Arzt, von dem die Frau den Abbruch der Schwangerschaft verlangt, obliegen die sich aus den Urteilsgründen ergebenden Pflichten (D. V. 1. und 2.). 6. Das in Nummer 4 vorgesehene Anerkennungsverfahren ist auch für bestehende Beratungsstellen durchzuführen. Bis zu dessen Abschluß, längstens bis zum 31. Dezember 1994, sind sie befugt, gemäß Nummer 3 dieser Anordnung zu beraten. 7. Die Pflicht zur Führung einer Bundesstatistik und die Meldepflicht nach Artikel 4 des Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts (5. StrRG) vom 18. Juni 1974 (Bundesgesetzbl. I Seite 1297), geändert durch Artikel 3 und Artikel 4 des Fünfzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes vom 18. Mai 1976 (Bundesgesetzbl. I Seite 1213), gelten auch in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet. 8. Die Regelung des § 37 a des Bundessozialhilfegesetzes findet auch Anwendung bei Abbruchen der Schwangerschaft nach Nummer 2 dieser Anordnung. 9. Bis zu einer Entscheidung des Gesetzgebers über eine etwaige Einführung einer kriminologischen Indikation und deren Feststellung können Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung und nach Beihilfevorschriften Anspruchsberechtigte bei einem Abbruch der Schwangerschaft auf Antrag Leistungen erhalten, wenn die Voraussetzungen der Nummer 2 dieser Anordnung vorliegen und der zuständige Amtsarzt oder ein Vertrauensarzt der gesetzlichen Krankenkasse bescheinigt hat, daß nach